die kleinschriftbewegung

typographische mitteilungen, zeitschrift des bildungsverbandes der deutschen buchdrucker, berlin, 28. jahrgang, mai 1931, seite 123

autokratie oder demokratie in der rechtschreibung ?

auf allen gebieten des öffentlichen lebens können wir gegenwärtig ganz deutlich einen widerstand gegen alle neuzeitlichen bestrebungen feststellen . es ist nicht notwendig, an dieser stelle im einzelnen all die dinge aufzuzählen, die als beweis für das soeben gesagte gelten können . die unzufriedenheit mit allen einrichtungen, ganz gleich welcher art, wird ausgenutzt für dunkle zwecke, deren hintergrund aber für den klarblickenden deutlich erkennbar ist : festhalten an der tradition und wiederherstellung des zustandes, in dem das arbeitende volk von den besitzenden ohne widerspruch regiert wurde . wenn man all diese zusammenhänge eingehend betrachtet, dann wundert man sich nicht, daß gerade aus jenen kreisen die stärksten widersacher auch gegen bestrebungen auftreten, die der reform der rechtschreibung dienen, die auf eine reform der schrift bedacht sind, und die auch in gesellschaftlicher hinsicht dem volke auf diesem gebiete erleichterungen schaffen wollen, indem sie durch vereinfachung im schriftwerk das schreiben jedem volksgenossen zu ermöglichen suchen . es ist bezeichnend für jene kreise, daß unwidersprochen von einem kapitänleutnant die worte geschrieben werden können : »nur die geistig arbeitende oberschicht sämtlicher berufsstände wird die rechtschreibregeln unter allen umständen beherrschen lernen .« darin liegt ein derartig wegwerfendes urteil gegenüber der masse des volkes, das wie ein greller blitz die ganze dunkle angelegenheit beleuchtet, in die die befürworter einer durchgreifenden rechtschreibänderung licht zu bringen suchen . erschreckt wurde in der zeitschrift des deutschen sprachvereins den lesern davon kenntnis gegeben, daß dem bildungsverband der deutschen buchdrucker die rechtschreibung nur als ein willkürlich erschwertes bildungsmittel zur niederhaltung der arbeitenden klasse erscheine, daß diese rechtschreibung ein mittel zur geistesverwirrung der ungebildeten sei, und daß er der auffassung ist, die »akademiker« wollten gar nicht, daß das gemeine volk ebenso schreiben und lesen lerne wie sie . der herausgeber jener zeitschrift, dr. oskar streicher, bezeichnet diesen standpunkt als unbegreifliches, aber tief bedauerliches vorurteil . die vorher zitierten worte des kapitänleutnants bestärken uns in diesem vorurteil, und wenn wir deshalb für die größtmögliche erleichterung in der rechtschreibung eintreten, damit jeder deutsche sie ohne große mühe beherrschen lerne, so finden wir den besten beweis für unsere auffassung gleichfalls bei dem erwähnten kapitänleutnant in den worten, »daß man heute selbst in kreisen, von denen man bessere kenntnisse der rechtschreibung erwarten sollte, eine fürchterliche unsicherheit hinsichtlich der großschreibung beobachten und häufig erleben kann, daß selbst zweifelsfreie hauptwörter klein geschrieben werden« . wir ziehen daraus die einzig mögliche folgerung : klein schreiben ! keine buchstaben mit puderperücken und standeskrönchen ! demokratie auch in der rechtschreibung !