die kleinschriftbewegung

typographische mitteilungen, zeitschrift des bildungsverbandes der deutschen buchdrucker, berlin, 28. jahrgang, mai 1931, seite 125
dr. walter porstmann, berlin-lichterfelde

kleinschrift oder einschrift ?

wir wollen die einschriftfrage einmal grundsätzlich trennen von rechtschreibfragen . die rechtschreibung befaßt sich mit der darstellung der einzelnen laute unserer sprache durch die schriftzeichen, auf die man sich vorher schon geeinigt hat . die einschrift- oder zweischriftfrage dagegen setzt fest, mit wieviel verschiedenen zeichen (alphabeten) man innerhalb der rechtschreibung auszukommen gedenkt . die scharfe trennung dieser beiden fragen führt auch zur erkenntnis, warum in unserer zeit die einschrift lebendig wird und die zweischrift schwer abbröckelt, und warum allerwärts noch großer widerstand gegen den eingriff in die schriftentwicklung, gegen die verbesserung der rechtschreibung besteht . wir bekommen das heutige volk eher dazu, sich zur einschrift zu bekennen (sie wird ja allenthalben bereits angewendet); schwerer dagegen wird eine rechtschreibverbesserung durchzusetzen sein . hierfür sind noch nicht genügend köpfe reif . wir greifen dabei in jahrhundertelang geübte und eingesessene formen ein . der weg hierzu muß wohl überlegt werden; wahrscheinlich sind einzelne stufen bei vorher klargelegtem ziel einzuhalten . diese regelung steht uns noch bevor .

etwas anderes ist die alphabetfrage, die sich ausschließlich mit dem zeichensystem befaßt, das heißt: wollen wir ein zeichensystem oder zwei oder gar mehr festlegen (antiqua, fraktur, druckschrift, schreibschrift), wollen wir mit einem alphabet alle wörter schreiben können (einschrift), oder sollen gleichzeitig zwei verschiedene (zweischrift) oder drei angewendet werden . man kann sich vorstellen, daß anfangsbuchstaben mit römischen zeichen geschrieben werden (große staben), zeichen inmitten eines wortes mit den im mittelalter entwickelten minuskeln (kleinschrift), endbuchstaben aber grundsätzlich mit griechischen zeichen . das wäre eine dreischrift . wir werden weiter sehen, daß wir uns diese schrift nicht patentieren lassen können, dreischriften bestehen bereits . wir sind uns aber klar, daß wir vorläufig an den bereits für die deutsche schrift benutzten zeichenformen wenig ändern werden, das heißt, wir werden nicht auf das sanskrit-alphabet hinauskommen oder gar auf die runen . dagegen sind wir uns gar nicht klar, ob wir einschrift, zweischrift oder dreischrift pflegen sollen .

die rechtschreibung ordnet die bezeichnung des gleichen lautes in verschiedenen wörtern (mir, ihr, wie usw.); die ein- oder zweischriftfrage ordnet die bezeichnung des gleichen lautes nach der lage im wort, je nachdem er am anfang, in der mitte oder am ende vorkommt . dabei kann sich diese regelung auf bestimmte wortklassen beschränken (dingwörter, zeitwörter) oder auf satzbeginn oder auf namen . wer die beiden sätze genau prüft, wird einwenden, daß auch alle rechtschreibfragen für langes i geordnet sind, sobald die schreibung für langes i unabhängig von der stellung des lautes im wort geordnet ist, daß also beide fragen schließlich doch zusammenfallen . richtig; zur zeit brauchen wir aber nicht nur mehrere zeichen, je nachdem der laut am anfang oder dahinter steht (groß oder klein), sondern auch noch vielerlei zeichenbilder (i, ih, ie, ieh) für den gleichen laut in verschiedenen wörtern . dazu kommt noch die zersplitterung in altschrift und bruchschrift, druckschrift und schreibschrift (alphabetfrage) . diese zahl vervierfacht sich also . doch dies alles weiß jedes kind – aber gedanken macht sich niemand darüber . daß die lautbezeichnung mit der stellung im wort wechselt, ist nicht ein vorrecht unserer schrift . es gibt sehr viele schriften, die vier verschiedene stellungen des gleichen lautes unterscheiden und dafür vier verschiedene zeichen bereit halten . abgeschliffene handschriftbräuche führten zu verschiedenen zeichen für den gleichen laut, je nach der stellung im wort . die druckschrift übernahm diese bräuche und belastete sich damit ungeheuerlich ! die alten griechen hatten eine zweischrift (groß und klein): Α α (alpha), Β β (beta), Γ γ (gamma) usw.; die großen staben stammen von einer noch älteren einschrift her, die kleinen sind vermutlich flüssigere formen dieser älteren großen staben . beide erhielten sich nebeneinander; sie teilten sich friedlich: großstaben für satz- und namenbeginn, kleinstaben für alles andere. bereits die römer haben es vor 2000 jahren zur klarsten schriftform gebracht, zur einschrift . sie leiteten aus den griechischen groBstaben ihre lateinischen zeichen ab: A B C D... ein alphabet zum aufbau und zur beherrschung des ganzen römerreiches. die griechischen kleinstaben benutzten sie nicht . im zuge der geschichte von osten nach westen erkennen wir klärung der schrift von den verwickelten wort- und silbenschriften der ältesten kulturen über die drei- und vierschriften der zwischenstufen bis zum gipfel der römischen einschrift, von der wortschrift zur lautschrift . wir lernen in der schule, daß das römertum ein gipfel der geschichte war . die lateinische schrift ist jedenfalls das wuchtigste wahrzeichen dafür . die schriftentwicklung ist noch nicht wieder auf einen gleichen gipfel gekommen, trotz zweier jahrtausende, trotz der drucktechnik !

das abendland hat eine rückentwicklung in der schrift erlebt . wir stecken im griechischen zustand der zweischrift (groß und klein) . wir deutschen stecken außerdem in einer weiteren sackgasse: wir leisten uns etwa dreißig zeichen für den gleichen laut! bitte, man stelle zusammen, auf wie vielerlei art wir langes o bezeichnen . sich hiermit zu befassen, ist arbeit am deutschtum, an seiner zukunft; es ist jedenfalls tausendmal wertvoller als kreuzworträtselraten . man stelle zusammen sämtliche schreibweisen unserer laute . nehmen wir vorsichtig an, es kommen im durchschnitt zwanzig für jeden zusammen (antiqua und fraktur, je groß und klein, je druck und schreib), macht acht . dazu malzunehmen mit der vielheit der rechtschreibung (so, ohne, boot, soest, bülow), so haben wir einen zeichenschatz von 500 grundlautzeichen zur bewältigung unserer schrift – chinesisch hat nur 214 klassen- oder wurzelzeichen für seine wortschrift ! wissen wir jetzt, warum deutsch so schwer ist ? warum es für eine weltsprache und weltschrift nicht besser geeignet ist als chinesisch ? nach der römischen gipfelleistung haben wir noch hinter die kulturen rückgewirtschaftet, aus denen die römer hervorgingen . und daraufhin schlagen wir uns an die brust . aber sehen wir irgendwo bereits besserung?

jeder hält es für großen unsinn, wenn jemand von der chinesischen schrift als weltschrift spricht, ist deutsch etwa einfacher ? diese zeilen sollen klarmachen, daß wir die vereinfachung der schrift etwas ernster nehmen müssen, als es im allgemeinen geschieht . jedenfalls ist die einschrift der erste, der leichteste, der schmerzloseste schritt . ihn kann jeder ohne gesetz und ohne nicht verstanden zu werden aus eigenstem entschluß heraus bereits gehen . es gehört dazu nur ein bißchen guter wille und verständnisvolles eingehen auf diese probleme .