die kleinschriftbewegung

typographische mitteilungen, zeitschrift des bildungsverbandes der deutschen buchdrucker, berlin, 28. jahrgang, mai 1931, seite 145
eugen gutnoff, berlin

die kleinschreibung in sowjetrußland

die ersten schritte zur einführung der kleinschreibung in sowjetrußland wurden im januar 1925 unternommen, und zwar durch einen öffentlichen aufruf der zeitung »wetschernjaja moskwa« in moskau / etwa zwei jahre danach wurde dann in der zeitung »krasnaja gaseta« in leningrad für die einführung der kleinschreibung aufgetreten, und in demselben jahr brachte auch die fachzeitschrift »polygraphitscheskoje proiswodstwo« in moskau einen artikel, in dem die einführung der kleinschreibung begründet und befürwortet wurde / 1929 trat morosoff für eine reform der alten schreibweise auf und empfahl die abschaffung der versalbuchstaben, dafür aber die anwendung von kapitälchen / die frage löste eine starke diskussion aus / der vorschlag morosoffs fand beim zentralkomitee des buchdruckerverbandes anerkennung und unterstützung / auf dem kongreß dieses zentralkomitees im jahre 1929 wurde die frage der reform der alten schreibweise eingehend erörtert und einstimmig die reform gefordert / das zentralkomitee wandte sich an den wissenschaftlich-technischen rat der polygraphischen industrie beim obersten volkswirtschaftsrat / nach eingehender prüfung wurde am 11. juni 1930 ein kongreß des wissenschaftlich-technischen rates abgehalten, auf dem sich die auffassungen in zwei lager teilten / es entstand eine gruppe morosoff - für abschaffung der großbuchstaben und anwendung von kapitälchen - und die gruppe schtschelkunoff, rektor des staatlichen journalisten-institutes in moskau, für absolute kleinschreibung / die einführung der kleinschreibung hält diese gruppe für zeitgemäß und unbedingt erforderlich, zumal da die kleinen buchstaben durch ihre runde form leichter für die augen zu erfassen sind, die augen nicht so angestrengt werden wie bei versalien und kapitälchen / in japan, china und arabien wird ja ausschließlich kleinschrift verwendet, und man ist dort niemals auf schwierigkeiten gestoßen / beide gruppen zählten die wirtschaftlichen vorteile für den staat auf / nach langen debatten lehnte der kongreß den vorschlag morosoff (verwendung von kapitälchen) ab und stimmte mit überwiegender mehrheit dem vorschlag schtschelkunoff (absolute kleinschreibung) zu / ein kongreßteilnehmer erinnerte noch daran, daß man die kleinschreibung bereits im siebenten jahrhundert in rußland geschaffen hatte, denn vordem gab es nur versalschrift, und daß man bis einschließlich zum zehnten jahrhundert die beiden schreibweisen getrennt, und zwar vorwiegend die kleinschreibung geführt hat / erst im zehnten jahrhundert wurden die beiden alphabete vereint, und zwar derart, daß man zarennamen sowie andere eigennamen, titel der höheren beamten, die namen der heiligen usw. mit großen buchstaben anfing / wir finden aber auch schriften aus dem mittelalter, bis einschließlich zum sechzehnten jahrhundert, in denen man ausschließlich kleinschrift benutzte / in späteren jahrhunderten sehen wir, daß man außer den großen buchstaben noch kapitälchen angewandt hat / der obenerwähnte kongreß beschloß ferner, die notwendigen schritte zur durchführung der kleinschreibung sofort zu unternehmen und sich mit allen zuständigen instanzen in verbindung zu setzen; hierzu gehört vor allen dingen das volkskommissariat für schulwesen / in der fachzeitschrift »polygraphitscheskoje proiswodstwo« nr. 6 und 7 von 1930 finden wir darüber interessante ausführungen von w. e. lwow, die sich im wesentlichen mit den vorteilen der kleinschreibung befassen, wie sie in den »typographischen mitteilungen« und im »graphischen betrieb« veröffentlicht wurden / praktisch wird die kleinschreibung bereits in vielen fällen angewandt, jedoch muß erst noch die überwiegende anzahl der presse erfaßt werden / daß die allgemeine einführung der kleinschreibung sich durchsetzen uud zum ziele gelangen wird, ist nicht mehr zu bezweifeln / (in dem vorstehenden aufsatz sind auf wunsch des verfassers die einzelnen sätze durch schrägstriche getrennt worden / für den anschauungsunterricht ist das gegenüber den andern aufsätzen, wo die punkte auf mitte stehen, sicher sehr wertvoll / die schriftleitung)